documenta14 – Von Nutten und Nazis

Sexperten in Aktionskunst

Ich war am Anfang meines Kulturwissenschaftsstudiums als ich zum ersten Mal von Dr. Annie Sprinkle hörte – Wissenschaftlerin, Künstlerin und „Hure“. Sie promovierte über die Situation von SexarbeiterInnen, als Künstlerin erreichte sie Weltberühmtheit mit der Performance ‚Public Cervix Announcement‘, in der sie ihren Scheidenkanal jedermann zur Einsicht bot. Und eine Domina in Deutschland wurde so grosser Fan, dass sie sich namentlich an sie anlehnte: Pixie Pee Magic. Annie ‚Sprinkle‘ war nämlich auch für ihre Vorliebe für wilde Pissspiele berühmt.

Heute ist Annie Sprinkle Gast an Universitäten, Galerien und Museen und zuletzt auf der documenta_14 in Kassel, der bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst der Welt. Und nun ratet mal wer sie da tatkräftig unterstüzt hat? Genau Pixie Pee Magic herself, und nicht nur die.

Ein ganzes Dutzend Sexexperten aus dem deutschsprachigen Raum reiste an, um Sprinkles Aktionskunstkonzept „Sidewalk Sex Clinic“ lebendig zu machen: Beratung zur eigenen Sexualität im Vorbeigehen. Öffentlich. Als wäre Sex ganz normal. Also Sex haben, über Sex nachdenken, Sex kaufen. Und: Über Sex reden.

Das Interesse und das Vertrauen der Besucher war groß. Ratsuchende standen Schlange, Schaulustige jubelten uns zu. Und schienen aufzuatmen: Ein Horde plappernder Nutten? Naja, ist ja documenta, Kunst muss dürfen dürfen.
In meiner Funktion als Domina, Kulturexpertin und Tantra-Masseurin wurde ich mit Fragen überhäuft. „Wie finde ich die richtige Sub? Ich bin einfach zu dominant… ich brauche Widerstand von unten!“ Oder: „In meiner Ehe gibt es seit Jahren keinen Sex mehr, was kann ich tun?“ Oder – eine Dame um die 70: „Ich habe mir Dominas immer zynisch vorgestellt, sie wirken aber gar nicht so. Warum?“ Oder ein junges Mädchen: „Ich will endlich einmal Sex, aber mein Freund will nicht. Was soll ich meinen Freundinnen sagen?“

Wie im Anschluss festgehalten wurde: Wir waren das Orakel von Delphi, wir wussten einfach immer die richtige Antwort. Das war unglaublich. Aber mir kam noch viel mehr unglaublich vor: Fremde Menschen schütten anderen fremden Menschen ihr Herz aus. Sie offenbaren sich komplett und sparen überhaupt nicht mit intimen Details. Hier schien ein Bedarf zu sein. Und: Der ganze Raum strahlte schon nach wenigen Minuten vor Freude und Herzlichkeit. Die Menschen waren begeistert, fühlten sich mit ihren Problemen wahrgenommen und vor allem gut beraten. Sexarbeitende wurden als Autorität anerkannt.

Auf dem Platz auf dem die Documenta seit 1955 stattfindet, fanden im dritten Reich Versammlungen der Nationalsozialisten statt. Auch Bücher wurden hier verbrannt, das grösste Kunstwerk der documenta_14 macht darauf aufmerksam. Hegel bezeichnete den Ort als ‚Schädelstätte der Geschichte‘. Und der künstlerische Leiter der documenta14 stellt auf eben diesem Platz fest: „Hier wird ein Funktionswechsel markiert – etwas, was eine Tötungsmaschine war, wird zu einem Ort der Produktion von Beziehungen.“

Ein freier Ort, an dem wir es nicht nur geschafft haben uns (Sexworker und Rest der Gesellschaft) vorurteilsfrei aufeinander zuzubewegen, sondern auch noch frei von der Leber weg über unsere Sexualitäten zu beraten und dabei temporär in intime Beziehung zu geraten. Eine Qualität die ich auch aus meinen Sessions gut kenne und die der Ethnologe Victor Turner ‚Communitas‘ nennt: „The sense of being emotionally, intuitively integrated into humanity, soul to soul contact.“ ‚Communitas‘ im Kontrast zu den Regeln und Rollen wie sie in der sozialen Struktur einer Gesellschaft gelten. Für die Dauer des Rituals sind alle gleich. Wir haben einen freien Raum geschaffen, den wir nicht für selbstverständlich halten dürfen. Oder wie Annie Sprinkles Freundin Gloria sagt: „Freedom isn’t free. We have to exercise our freedoms in order to hold on to them“.

Seit 2017 sind in Deutschland alle ‚Sexarbeiter‘ einer Gesetzesänderung unterworfen die Stigmatisierung und Kriminalisierung von SexworkerInnen vorantreibt. Ganz im Gegenteil zu dem was es behauptet. Nämlich den Schutz derselbigen. Das Prostituierten’schutz’gesetz scheint mir eine friedenssichernde Massnahme zu sein. Und mittlerweile wissen die meisten was das bedeutet: Krieg. Sexarbeiterinnen werden zur Registrierung gezwungen. Sie müssen ihre Daten preisgeben und bekommen ein Papier, das sie als Sexarbeiterin ausweist, und das sie bei der Arbeit mit sich führen müssen. Wehe der, der ihre Tasche geklaut wird. Wehe den Registrierungsdatenbanken die gehackt werden könnten. Wehe der Mutter des Boyfriends die bei der Polizei als Sekretärin arbeitet und deinen Namen checkt (das ist mir passiert). Wehe Fahrzeugkontrolle, und der Polizist spricht dich auf deinen Beruf an, während jemand neben dir sitzt der es nicht wissen soll (meiner Kollegin passiert).

Annie Sprinkle hat in den 70ern einen mutigen Anfang für die Entstigmatisierung von Sexworkern gemacht, heute bringt sie Sexarbeiter auf die documenta und die Besucher danken es ihr. Sie merken, dass sie aufgeklärte Experten vor sich haben, die ihnen in zentralen Aspekten ihres Leben helfen können. Aspekte die in unserer verkorksten Gesellschaft gerne verschwiegen werden. Solche Experten sollten anerkannt sein. Sie stattdessen mit einem Zwangsausweis zu brandmarken, wie in dunkelsten Zeiten, ist sicher nicht der richtige Weg.

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